Heft 5 - 2008

PRO-REGIO-ONLINE - ZEITSCHRIFT

PRO-REGIO-ONLINE

- ZeitSchrift für den Ländlichen Raum -

 

l Das Heft Nr. 5 (2008) hat den ThemenSchwerpunkt:

 DIE VERNACHLÄSSIGTEN KLEINSTÄDTE

 - Der vergessene Teil des Ländlichen Raumes -

 Teil IV: "KLEINSTADT 1968"
- Politische Jugendbewegungen 1967 – 1977 in der Provinz

 

 

Inhaltsverzeichnis Heft Nr. 5 – 2008  

 

EdiTorial - "Kleinstadt 1968" – Politische Jugendbewegungen 1967 – 1977 in der Provinz

ThemenSchwerpunkt

Albert Herrenknecht:
"Kleinstadt 1968"Die Politischen Jugendbewegungen in der Provinz von den 1950er bis 1970er Jahren

1. Die Soziallandschaft der Kleinstadt in den 60er Jahren

2. Jugendgefühle in der Kleinstadt der 60er Jahre

3. Die Kleinstadtprovinz der 50er Jahre
3.1 Das Nachkriegsklima – der politische Zeitgeist der 50er Jahre
3.2 Das Jugendleben in der Kleinstadt der 50er Jahre
3.2.1 Das Jugendgefühl in der Kleinstadt der 50er Jahre
3.2.2 Die Jugendorte der Kleinstadtjugend der 50er Jahre

4. Der Aufbruch der Kleinstädte in den 60er Jahren

5. Die Schülerbewegung in der Kleinstadt
5.1 Das Ende der pädagogischen Provinz
5.2 Die Einschätzung der Kleinstadtprovinz durch die Schülerbewegung
5.3 Die Strategie der Schülerbewegung zur Politisierung der Provinz
5.4 Die Rückkehr der Ungleichzeitigkeit in der Nach-Schülerbewegung

6. Die Lehrlingsbewegung in der Kleinstadt
6.1 Ursachen und Verlauf der Lehrlingsbewegung in der Provinz
6.2 Das Ende der Lehrlingsbewegung in der Provinz

7. Die Jugendzentrumsbewegung in der Kleinstadt
7.1 Das politische Programm der Jugendzentrumsbewegung in der Provinz
7.2 Probleme bei der politischen Aktivierung von Jugendliche in der Provinz
7.3 Behinderung der Jugendzentrumsarbeit durch die Stadtverwaltung in der Provinz
7.4 Behinderung der Jugendzentrumsarbeit durch die repressive Kleinstadtöffentlichkeit
7.5 Erfolge und Widersprüche der Jugendzentrumsbewegung in der Provinz während ihrer Phase als Offene Bewegung (1971-1975)
7.6 Der Wandel der Jugendzentrumsbewegung in der Provinz 1974-1976
7.7 Der Übergang der Jugendzentrumsbewegung in der Provinz zur Bildung von Regionalzusammenschlüssen (ab 1975)

8. Provinzarbeit als Lernprozess der Politischen Jugendbewegungen in der Provinz – Der lange Marsch durch die Provinz beginnt

9. Zusammenfassende Gesamtbeurteilung der Politischen Jugendbewegungen der 60er und 70er Jahre in der Provinz
– Ein vorläufiges Resümee
9.1 Gesamtbeurteilung der Schülerbewegung in der Provinz (1967-72)
9.2 Gesamtbeurteilung der Lehrlingsbewegung in der Provinz (1969-72)
9.3 Gesamtbeurteilung der Jugendzentrumsbewegung in der Provinz (1971-77)

10. Literaturverzeichnis

 

HinterLand

Pro-Regio-Online-Dokumentation

Kleine Rezeptionsgeschichte der "Kleinstadt 1968": Rückblick auf die Politische Jugendbewegungen 1967 – 1977 in der Provinz

Albert Herrenknecht:
Unsere zehn Jahre danach. Subjektive Eindrücke über die Jugendbewegung in der Provinz.

(Reprint des Textes aus: Ästhetik und Kommunikation – Beiträge zur politischen Erziehung, Heft 34 - Schwerpunkt: Neue Lebensformen – Wunsch und Praxis - Dezember 1978, S. 73-79 einschließlich eines redaktionellen Nachtrags der bei dieser Version gekürzten Text-Passagen)

Albert Herrenknecht / Jürgen Wohlfarth:
Vom Kampf gegen die Provinz zum Kampf mit der Provinz. 20 Jahre politische Emanzipationsbewegungen in der Provinz.

(Reprint des Textes aus: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, Schwerpunkt: Power in der Provinz. Heft 4 / 1991, Marburg 1991, S. 21-31)

Albert Herrenknecht:
Die Jugendbewegung in der Provinz als alternative „Beheimatungsbewegung“ – 25 Jahre Jugendzentrumsbewegung in der Provinz. Ein Rückblick.

(Reprint des Textes aus: Friedericke Kamann / Eberhard Kögel: Ruhestörung. Eine moderne Heimatgeschichte. 25 Jahre Jugendzentrum Stetten in Selbstverwaltung 1968-1993, Teil I (April 1968 bis Ende 1975). Stetten / Grafenau 1993, S. 10-22)

Albert Herrenknecht:
Heimat als Thema der neuen sozialen Bewegungen der 70er und 80er Jahre.

(Reprint des Textes aus: Förderverein Projekt Osthofen e.V. (Hrsg.): Heimatbewegung und NS-Kulturpolitik in Hessen, Pfalz, Elsaß und Lothringen. Osthofen 1999, S. 26-32)

 

 

EdiTorial Heft Nr. 5 - 2008

„Kleinstadt 1968“ – Die Politischen Jugendbewegungen 1967 – 1977 in der Provinz

„Kleinstadt 1968“ – „1968 in der Provinz?“ War da überhaupt was? Ja, da war etwas. Mancherorts sogar ein richtiger kleiner Aufstand von Teilen der Kleinstadtjugend. 1968 fand auch in den echten (ländlichen) Kleinstädten statt und nicht nur – was bisher als „1968 in der Provinz“ (wie z.B. im Bildband von Werner Kohn: „In der Provinz, 1968“, Berlin 1988) angesehen wurde - als Studentenbewegung in den Mittelstädten (wie z.B. Bamberg, Tübingen oder Marburg).

Es gibt nur einen wesentlichen Unterschied zur 1968er Bewegung in den Metropolen: die Jugendrevolte in den Kleinstädten war keine Studentenangelegenheit, sondern ging anfangs von den Oberschülern und später auch von den Lehrlingen aus. Es war eine Jugendrevolte, die Mitten aus der Kleinstadtgesellschaft heraus kam, und deshalb die Kleinstadthonoratioren so unerwartet und schmerzhaft traf. Was hier rebellierte waren nicht ‚aufgehetzte Studenten’, sondern Provinzjugendliche, die die große Schere zwischen dem Schein und Sein der noch in großen Teilen undemokratischen Gesellschaft der 1968-Zeit anprangerten, denn die klaren Ansagen der damals Herrschenden waren eindeutig: „Die Schule ist keine Demokratie“ und die „Demokratie endet vor den Fabriktoren“.

Aber nicht nur dieser Widerspruch empörte, sondern auch der wie ein „Alp auf den Häuptern“ (Karl Marx) liegende Mief und Muff der 50er und frühen 60er Jahre, die provinzielle Stickigkeit, die die Kleinstädte in dieser Zeit auszeichnete. Ohne dieses besondere Klima der erz-provinziellen 50er Jahre wäre der Ausbruch der Jugendrevolte Ende der 60er Jahre nicht denkbar gewesen. Hier hatte sich eine mächtige Sehnsucht aufgestaut, die auf Entladung wartete. Das dann 1968 entflammte Unbehagen fiel also im völlig ausgetrockneten Provinzleben auf einen wohl-bereiteten Boden und konnte sich deshalb so sehr schnell entzünden. Etwas Revolutionäres lag seit Mitte der 60er Jahre in der Luft – wie der damalige Soundtrack der Revolte: „Something in the air“ (Thunderclap Newman) verkündete – die Zeit war reif, den Kleinstadtmief und Gesellschaftsmuff, die Plüschatmosphäre der Kleinstadtspießergesellschaft, durcheinander zu wirbeln. Die eigene Jugendphase fiel mit einer „Jugendphase der Geschichte“ (Ernst Bloch) zusammen und wuchs gerade in der ausgedorrten Provinz zu einem Sehnen nach einer neuen Zeit an, denn: „Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“ (Victor Hugo)

„Kleinstadt 1968“ – Worüber reden wir unter diesem Stichwort? Natürlich hatte das Jahr 1968 in den Kleinstädten nicht auf genau dieses Datum hin ausgerichtet die gleiche zentrale geschichtliche Bedeutung wie in den Großstädten der damaligen Zeit. In der Provinz war 1968 vielerorts erst der Startpunkt einer Schülerrevolte und keineswegs bereits der Höhepunkt einer Bewegung. Hier greift die provinz-bekannte Zeitverschiebung, dass es eine Zeit braucht, bis Großstadtereignisse in der Kleinstadt ankommen, was einige politische Provinzler gerne dazu veranlasste, von sich selbst als den „1969ern in der Provinz“ – also ironischerweise von der ‚wieder etwas verspäteten Generation’ zu sprechen. Ironisch deshalb, weil in diesem Fall die Übertragung auf die Provinzstädte in relativ rasantem Tempo geschah, so dass ab 1969 bereits viele Kleinstädte nah dran waren oder bereits mittendrin in der Schüler- und Studentenbewegung steckten.

„Kleinstadt 1968“ bedeutet für die Geschichte der Kleinstädte daher kein terminlich fixes Datum, sondern ein ‚symbolisches Datum’, ein ‚Epochebegriff’, der das zeitliche und inhaltliche Verbindungsglied zur urbanen und weltweiten Jugendrevolte darstellt. Der Zeitraum der kleinstädtischen Jugendbewegung umfasst im ‚erweiterten’ Sinn (d.h. ‚Vor- und Nachläufer’ einbeziehend) den Zeitraum von 1967 bis 1977, im ‚engeren’ Sinn (die eigentliche ‚Bewegungshochphase’ umfassend) den Zeitraum von 1968 bis 1975. Wir reden also – wenn wir von „Kleinstadt 1968“ reden - von dieser Zeitspanne von 10 Jahren, von 1967 bis 1977, als dem ‚bewegten Jahrzehnt’ in der Provinz.

Von den Jugendbewegungen her umfasst diese Epoche die Schülerbewegung (1967-1972), die Lehrlingsbewegung (1969-1972) und die Jugendzentrumsbewegung (1970-1977) in der Provinz. Diese drei Jugendbewegungen hängen inhaltlich, von ihrem Entstehungshintergrund her, eng zusammen und sind ohne den jeweiligen Vorläufer nicht zu verstehen. Es gibt Orte, an denen alle drei Jugendbewegungen hintereinander durchlaufen wurden, aber es gibt auch Kleinstädte, in der jeweils nur eine dieser Jugendbewegungen aktiv war. Für die letzte Ausläuferbewegung von 1968 – die Jugendzentrumsbewegung - gilt allerdings, dass diese in den 70er Jahre nicht nur beinahe alle Kleinstädte flächendeckend erfasste, sondern selbst bis in die Dörfer reichte. Die Jugendzentrumsbewegung war Mitte der 70er Jahre zu einer „Provinzbewegung“ (Albert Herrenknecht) geworden und hatte sich von der anfänglichen Stadtorientierung der Vorgängerbewegungen immer weiter entfernt, hatte also mit der ursprünglichen Gleichzeitigkeit von „1968 in den Metropolen“ und „1968 in der Provinz“ immer weniger zu tun.

Generell kann man sagen, dass „1968 in der Provinz“ vom Zeitablauf eher in den 70er Jahren stattfand, weil Anfang der 70er Jahre alle Jugendbewegungen ihren inhaltlichen und organisatorischen Höhepunkt hatten. Die breiteste Verankerung unter politisierten Jugendlichen hatte die Jugendzentrumsbewegung, deren weiteste Organisationsbreite und deren Aktionshöhepunkt in den Jahren 1973-1974 lag. Diese Zeitverschiebung hatte aber dieses Mal weniger mit der klassischen Zeitverschiebung einer immer etwas „verspäteten Provinz“ zu tun – denn der Übersprung von der Studentenbewegung in den Städten zur Schüler- und Lehrlingsbewegung in den Kleinstädten hatte gerade Mal den kurzen Zeitraum von 1-2 Jahren gebraucht – sondern eher mit den unterschiedlichen Organisationsbedingungen und –abläufen in der Provinz: Während die Studentenbewegung in den Zentren bereits abebbte, stieg die Breite der politischen Jugendbewegung in den Kleinstädten noch an, begannen diese erst intensiv mit ihrer Arbeit vor Ort.

Diese hier vorgenommene grobe Zeitaufteilung gilt natürlich nicht für die jeweiligen lokal-spezifischen Verläufe der Jugendbewegungen in den Kleinstädte. So z.B. gab es Kleinstädte, die bereits seit Mitte der 60er Jahre über einen politischen Jugendclub (Club Voltaire, Republikanischer Club, Beat-Keller usw.) verfügten und bereits früher eine politische Jugendscene beherbergten. Oder es gibt Kleinstädte, die die Schüler- und Lehrlingsbewegung verschliefen, aber mit der Jugendzentrumsbewegung schon 1970 zu Gange waren. Diese aus den lokalen Besonderheiten herrührenden Ungleichzeitigkeiten in den Bewegungsabläufen ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass in den gemeinsamen Schnittmengen ein klarer Bewegungsverlauf mit Anfang, Höhepunkt und Ende datierbar ist. Wir reden also wenn wir von der „Politischen Jugendbewegung in den Kleinstädten“ reden im ‚erweiterten’ Zeitraum von den Jahren 1967-1977, im ‚engeren’ „Bewegungs“-Zeitraum von den Jahren 1968-1975 (also von einem Zeitraum von 7 Jahren), wo die Jugendbewegung auch von der Masse der teilnehmenden Jugendlichen, den durchgeführten Aktivitäten und der politischen Wirkungsbreite her eine wirkliche „Bewegung“ war und von einem Zeitraum von 10 Jahren, in denen in einzelnen Regionen bereits Vorläuferbewegungen aktiv waren oder noch Nachfolgebewegungen bis in die 1970er Jahre hinein nachliefen.

Der „bewegte“ Kernzeitraum der Politischen Jugendbewegung von 1967-1977 wäre aber nicht zu verstehen, wenn diesem nicht eine ausführliche Beschreibung des politischen Klimas in den 50er und frühen 60er Jahren vorausging. Alle Bewegungen haben ihre Vorgeschichte und für das Verständnis von dem, wie Jugendlichen sich in den 60er Jahren fühlten und wie sie dachten, ist es notwendig, das Jugendleben der 50er Jahre und das besondere politische Klima der Kleinstadt in den 50er und 60er Jahren voranzustellen. Deshalb wurde der Zeitraum des Thema „Kleinstadt 1968“ zeitlich rückdatiert und um diese Epoche der 50er und frühen 60er Jahre erweitert, denn sie war sozusagen der politische Nährboden auf dem die politische Aufbruchstimmung der „Provinz 1968“ so schnell Wurzel fassen und wachsen konnte.

„Kleinstadt 1968“ ist also nur der begrifflich-datierte Aufhänger, sich mit den „Politischen Jugendbewegungen in der Kleinstadt 1967 – 1977“ (wie der Untertitel des Schwerpunktteils daher auch folgerichtig lautet) zu beschäftigen. Damit wird die Metropolen- und Studentenbewegungs-Geschichte der 68-Bewegung endlich einmal um den ‚Provinzfaktor Kleinstadt’ erweitert, werden die ‚kleinen Studentenbewegungen’ (d.h. die die Studentenbewegung in den Kleinstädten vertretenden und ersetzenden Jugendbewegungen) in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt, und damit ein neues Erkenntnis- und Forschungsfenster aufgemacht, denn die Darstellung der Ausläufer der 68er-Revolte auf die ländlichen Kleinstädte und Dörfer ist bisher ein beinahe völlig unerforschtes Feld. Eine umfassende „Sozialgeschichte der Politischen Jugendbewegungen in der Provinz“ liegt bisher nicht vor.

Ein erster Versuch, eine solche vorzulegen, ist unser Schwerpunktheft, das sich darauf verlegt hat, diese Zeitepoche und die einzelnen Bewegungsabschnitte möglich zeitnah, sprach-authentisch und in Originaldokumenten widerzugeben. Dieser Anspruch konnte nur gelingen, weil es sich bei diesem Text selbst um ein ‚historisches Dokument’ handelt, das bereits vor 30 Jahren verfasst wurde, und bisher unveröffentlicht blieb. Es sollte Teil einer größeren Arbeit zur „Geschichte der Politischen Jugendbewegungen in der (westdeutschen) Provinz von den 50er bis in die 70er Jahre“ werden, konnte aber bisher nicht vollendet werden. Bis auf einige kleine Textkorrekturen und ganz wenige Literaturergänzungen, liegt mit diesem Text damit ein einmalige Zeitdokument (entstanden im Zeitraum von 12 - 15 Jahren nach 1968) in der Sprache, den Denkbildern und in der Empathie der damaligen Zeit vor, das nicht im historischen Nachblick ‚bereinigt’, ‚korrigiert’ oder ‚geschönt’ wurde. Dieser authentische Rückblick ermöglicht es, sich nochmals in diese besondere Zeit einzufühlen, die radikale Kraft und Unbeugsamkeit der damaligen Akteure zu spüren, aber auch die vorhandenen Ängste auf allen Seiten nachzuempfinden.

Die damals übliche Rückholung von Diskussionsfragmenten aus früheren Erfahrungen der politischen Linken mit der Provinz (wie z.B. bei Friedrich Engels, bei Kurt Tucholsky, bei Ernst Bloch, bei T.W. Adorno usw.), die durchaus auf hohem theoretischen Niveau geführte Debatten, den eigenen „politischen Kleinstadtkampf“ unter den „Gesetzmäßigkeiten der Kleinstadtverhältnissen“ einzuordnen und zu verstehen, und der damals vorherrschende politische Rechtfertigungszwang, die eigene politische Arbeit, sowohl gegenüber den real-existierenden Provinzverhältnissen abzugrenzen, als auch sich gegenüber der metropolen- und kopflastigen und damit ‚provinz-arroganten’ Linken, zu legitimieren, macht diese Arbeit zu einem echten Zeitdokument.

Im Jargon der damaligen Zeit, im unfertig-suchenden Analyseraster einer sich als ‚links’ verstehenden Provinzbewegung, in der schonungslosen selbstkritischen Offenlegung von Irrtümern und Fehlern, wird hier eine Epoche in ihrer ganzen zeitbedingten Widersprüchlichkeit wieder lebendig. Dieses Zeitdokument - das in der Fülle seiner Zitate – von damals selbst in den Jugendbewegungen Aktiven (quasi als ‚Chronisten der Bewegung’) - verfasst wurde, gibt Einblicke in das Denken der damaligen Zeit, wie es alle nachgelieferten Aufarbeitungen so zeitnah und gefühlsecht nicht mehr liefern könnten.

Auch wenn dieser bewegungsnahe Blickwinkel notwendigerweise reflektorische Lücken und analytische Unzulänglichkeiten aufweisen muss, also nicht frei ist, von blinden Flecken, sachlichen Verkürzungen oder emotionalen Einfärbungen, ist seine jetzige Veröffentlichung 2008 im 40jährigen Jubiläumsdatum von 1968 ein Glücksfall, denn diese „Geschichte der Politischen Jugendbewegungen in der Provinz von 1967 – 1977“ hat eine Person geschrieben, die nicht nur selbst aktiv, reflektierend und schreibend dabei war, sondern auch alle drei Jugendbewegungstypen autobiographisch durchlaufen und durchlebt hat.

Diese Selbstbetroffenheit – deren Mängel in der Selbstbeurteilung uns ja, wie gerade geschildert, durchaus bewusst sind – wird aufgewogen durch die damalige Präsenz „im Lauf der Dinge“ (Ernst Bloch), durch die Teilhabe an ‚inneren Einblicken’ in das Denken und Fühlen der damaligen Zeit und der damaligen Akteure, durch einen direkten Nachvollzug der damals geführten Diskussionen und der die Denkbilder beherrschenden Theorien und Ideologien (wie z.B. das von den Jugendbewegungen geprägte und so definierte „repressive Kleinstadtbild“, das auf Grund eigener Erfahrungen mit der Kleinstadtöffentlichkeit Schritt für Schritt differenziert und korrigiert wurde). D.h. auch die in dieser Arbeit vorgenommene Analyse der Kleinstadtsituation folgt keiner heute üblichen ‚objektiven Definition’ von Kleinstadt - z.B. nach den Kriterien der Soziologie, der Raumplanung oder der Kulturwissenschaft - sondern folgt dem ‚eingefärbten Kleinstadtbild’ dieser Epoche, um deutlich zu machen, wie sich in dieser Sichtweise die eigene Identität und Abgrenzung als rebellische Gegen-Bewegung niederschlug. Nur eine „verspießerte Kleinstadt“ konnte eine „anti-spießerische Revolte“ richtig begründen und rechtfertigen. Und für das so vorgegebene Kleinstadtbild gab die „Kleinstadt 1968“ und danach, mit ihrem beinahe ‚religiösen Kreuzzug’ gegen die in ihre ruhige Kleinstadtordnung eindringende ‚Unruhestifter’, selbst genug eigene Beispiele ab, so dass sie dieses negative Kleinstadtbild selbst immer wieder bestätigte und damit das ‚gefühlte’ Kleinstadtbild auch zum  ‚erlebten’ machte.

 

Der HinterLand-Teil als „zweiter“ Schwerpunkt zum Thema

Dieses Schwerpunktheft zur „Kleinstadt 1968“ beschränkt sich aber nicht nur auf eine möglichst authentische Schilderung des Denkens und der Aktionen der damaligen Politischen Jugendbewegungen, sondern liefert in seinem „HinterLand-Teil“ weitere wichtige Zeitdokumente einer (selbst)kritischen Nach-Reflexion der Politischen Jugendbewegungen in den Zeitabständen von 10 bis 40 Jahren danach, die beweisen, dass die gesellschaftliche Einordnung und Bewertung der „Kleinstadt 1968“, also der Politischen Jugendbewegungen in der Provinz, keineswegs ‚geschichtsgeklärt’ ist.

Diese - in unterschiedlichen zeitlichen Abständen zu dem jeweiligen Jubiläumsdatum 1968 gelieferten Bilanzen - gehen recht (selbst)kritisch mit der eigenen „Geschichte der Politischen Jugendbewegungen in der Provinz“ um, lassen also keine Verklärungen zu einer „Mythos-Geschichte 1968“ aufkommen, würdigen aber immer wieder auch die gesellschaftlichen und (kultur)politischen Erfolge der Jugendbewegungen für das heutige Leben und Jugendleben in den ländlichen Kleinstädten. Viele Biographien von ehemaligen Jugendbewegten zeigen, dass diese Lebensphase doch sehr prägend und einscheidend für ihren weiteren Werdegang waren und sich als biographische Intensivphase sehr tief in ihre Person eingegraben haben.

Interessant ist, wie in zeitlicher Distanz zu den Ereignissen von 1968, sich immer mehr herausschält, wie sehr diese Jugendrevolte doch auch eine schubartige Modernisierungsbewegung für die Kleinstädte war, und wie sehr es, gerade den Jugendlichen in der Provinz – was damals völlig unverstanden war – im Grunde um eine ‚alternative Beheimatung’ vor Ort und gar nicht so sehr um eine oft unterstellte ‚Zerstörung der Provinz’ ging. Auch die vielen schriftlichen, beinahe literarischen, Dokumente aus den Jugendbewegungen zeigen, dass die heutige Einschätzung der „Jugendbewegungen als alternative Heimatbewegungen“ (Albert Herrenknecht / Jürgen Wohlfarth)  gar nicht so falsch liegt.

Noch immer zu wenig untersucht ist die These, dass die Jugendbewegungen – vor allem die Jugendzentrumsbewegung – die sozio-kulturelle Erneuerung und Modernisierung der Kleinstädte vorbereiteten und kulturell einläuteten, und damit eine bis dahin nicht gekannte kulturelle Pluralität in den Kleinstädte einführte. Und – was das wirklich Neue war – dass die Kulturmodernisierer in den Kleinstädten wohnen blieben und diesen Kulturerweiterungsprozess mit vielen kleinen Kulturprojekten, Betriebs- und Existenzgründungen auch fortsetzten. Dass die damaligen ‚68er-Revolutionäre’ heute in manchen Kommunen zu den ‚neuen grünen Bewahrern’ wurden, und sich somit wieder ‚in der Opposition’ zur Main-Stream-Politik der Kleinstädte befinden, ist eines der großen Paradoxien der Geschichte.

Die Analyse der Kleinstadtentwicklungen seit den 1980er zeigt (Siehe: PRO-REGIO-ONLINE, Heft 2 – 2004: „Kleinstadtbilder – Kleine Sozialgeschichte der ländlichen Kleinstadt von 1945-2000“, S. 30ff.), dass diese sich bei ihrem Binnenmodernisierungsprozess durchaus aus den kulturellen Impulsen der 1968-Bewegung bedienten und dieser ohne die ‚kulturelle Eisbrecherfunktion’ der Umbrüche in den 60er und 70er Jahren so nicht möglich gewesen wäre. Der räumliche und kulturelle Aufbruch der Kleinstädte seit den 80er Jahren, der neue kulturelle und infrastrukturelle Standards für die Kleinstadtentwicklung setzte, hatte im kulturellen Aufbruch der Jugendgeneration nicht nur eine Tandem-Ergänzung, sondern auch einen wichtigen Vorreiter und Wegbereiter. Es wäre an der Zeit dies  - ‚40 Jahre danach’ - endlich einmal anzuerkennen und zu würdigen.

 

 

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